Leseproben R.

... Sie ging noch ein paar Schritte übers Gras auf ihn zu und reichte ihm die rechte Hand."Mein Name ist Marina, angenehm."

Er nahm ihre Hand und  wusste sofort, dass Marina die Frau aus seinen Träumen war.

Weniger ihr seidiges, fließendes Haar, das denselben Glanz wie das Fell der Traumgestalten hatte, verriet sie. Es waren ihre Augen, die ihr, auch als Raubtier im Traum, Form und Ausdruckskraft, diese anziehende Ausstrahlung verliehen.

Sie war anders als ihre Schwestern. Bestimmend, klar und selbstbewusst. Gegen sie wirkten sie wie kleine Mädchen. Wahrscheinlich, ging es ihm durch den Kopf, war sie die Älteste.

"Alina im Korb hast du ja schon kennen gelernt. Und das ist Hannah", sie nickte in Richtung der Kurzhaarigen.

Es entstand eine kleine Pause, die Marc irgendwie als unangenehm empfand. Fast, als hätte er sich in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen.

Er räusperte sich. "Marc Lendy, also Marc. Ich wohne nicht weit von hier."

Mit einem Blick auf den Ballon nickte er anerkennend. "Toll, dass Sie zu dritt sowas wagen. Und auch noch nachts", sagte er bewundernd und versuchte, seine langsam aufkeimende Unsicherheit zu verbergen. Sollte er sie siezen oder beim Du bleiben?

Er warf schon einen Blick zum Waldrand hinter sich und überlegte, ob man wohl von ihm erwartete, dass er sich verabschiede, als er sah, dass Marina ihre Tasche hob und ihrer Schwester in den Korb reichte. Die Blonde stöhnte, als sie ihr den Beutel abnahm. "Gott, was hast du denn bloß da drinnen? Das reicht ja für Wochen!"

Marina lachte. "Stell dich nicht so an, es ist Zeit, wir müssen gleich los. Hannah! Pack die Decke zusammen."

Während die beiden anderen die Sachen im Korb verstauten, ging Marina an Marc vorbei und drehte sich um zum Ballon, der groß und grün in den Himmel ragte.

"Sieh mal! Ist er nicht wunderschön?"

Sie winkte ihn zu sich heran, und ihr langes braunes Haar wehte ihr ins Gesicht. Sie versuchte, es mit der Hand zu bändigen. "Unser Vater hat ihn uns vermacht", sie schmunzelte. "Und wahrscheinlich auch seine Leidenschaft dafür. Sieh mal, dort. Das ist der Name, den wir ihm gegeben haben."

Marc ließ seinen Blick über die riesigen leuchtenden Stoffbahnen schweifen und entdeckte einen großen, schwarzen Schriftzug, der aussah, als hätte ein Kind es ungelenk mit der Hand darauf geschrieben. Himmelsblase.

Marina ging an ihm vorbei und umrundete den Ballon ein letztes Mal, wahrscheinlich um noch einmal alles zu überprüfen. Er roch ihr Parfüm.

"Ja",sagte er leise zu sich selbst. "Traumhaft schön. Es muss ganz wunderbar sein, damit zu fliegen."

Im Ballon heizte Alina immer noch an, sodass das Feuer des Brenners laut zischte. Marc konnte kaum den Blick von der großen, grünen Kugel, die nun prall und hell im Nachthimmel leuchtete, abwenden. Marina stand plötzlich wieder vor ihm. Ihre langen, braunen Haare hielt sie mit einer Hand im Wind fest, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen.

"Sie müssen jetzt los, ja?", fragte er und merkte, dass er klang, als bedauere er es.

"Ja sicher. Es ist jetzt wirklich Zeit zu starten. Wir halten es hier unten kaum noch aus, wenn er so groß ist." Marina musste ihre Worte fast schon schreien, so laut zischte der Brenner, den Alina hinter ihr bediente.

Einen Augenblick lang sah Marina ihn forschend von der Seite an. Es war, als überlege sie, ob sie die nächste Frage wirklich stellen wollte. Dann legte sie den Kopf schief und hob die Brauen.

"Aber wenn du Lust hast … ich fänd´s toll, wenn du uns die Freude machen würdest, dir die Welt von oben zu zeigen." Sie lächelte. "Die vielen Lichter, die man am Boden sehen kann."

Marc hatte kurz das Gefühl, er habe sich verhörte. "Sie meinen, wir könnten etwas verabreden? Kann man bei Ihnen sowas buchen?"

"Buchen?Nein, das ist nicht möglich. Wir machen das nur privat. Zum Spaß. Unser Ballon ist ein Vergnügen, das man nicht kaufen kann. Man kann es nur verschenken."

"Verschenken? Also doch buchen?"

Sie verzog ihr Gesicht, zeigte ihm, dass sie endlich wollte, dass er hinhörte. "Nein nein! Ich denke fast, du willst mich nicht verstehen. Ich meinte genau das, was ich gesagt habe, verschenken. Also ist es ein Geschenk. Von uns andich." Sie nahm plötzlich seine Hand, zog daran. "Komm, ich zeige es dir!"

Bevor er sich dagegen wehren konnte, waren sie die wenigen Schritte zum Korb gegangen, und Marina zeigte Marc, wie man über die hohe Bordwand einstieg. Er roch wieder diesen süßen blumigen Duft und sah sie erstaunt an.

"Jetzt komm schon! Dir hat wohl schon lange keiner was geschenkt. Diese Gelegenheit kommt nicht so bald wieder. Oder hast du Angst?"

Ja,natürlich hatte er Angst. Er hatte sie immer schon gehabt, vor der Tiefe und einem möglichen Absturz ins Leere. Wegen ihr war er noch nie geflogen, hatte sich immer wieder davor gedrückt, wenn er einen Urlaub oder eine Reise plante. Diese Angst jetzt hier und vor den drei mutigen Frauen zuzugeben, fiel ihm allerdings schwer.

"Es ist mitten in der Nacht", erwiderte er deshalb und ging vorsichtshalber einen Schritt rückwärts. Irgendwie wurde ihm sofort klar, wie albern seine Entschuldigung klingen musste. "Außerdem habe ich keine Ahnung, wohin Sie fliegen und wie ich später wieder nach Hause kommen kann. Danke, wirklich! Für alles."

"Wir fliegen dahin, wo uns der Ballon hinträgt", lachte Hannah. "Hier drin gibt es kein Steuerrad, man kann nur die Luftströmungen ein bisschen ausnutzen. Jetzt komm schon und mach uns die Freude. Wir haben nicht oft Gäste an Bord und wollen dir doch zeigen, was wir können. Und nach Hause kommst du auf jeden Fall, das können wir garantieren."

Marc holte tief Luft und versuchte, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen.

Wenn er jetzt dort einstieg, gab es kein Zurück mehr. Der Ballon würde abheben und immer höher und höher in den Himmel steigen.

In Grunde hatte so ein Flug außer Kontrolle etwas von Freiheit. Er wäre ausgeliefert und hätte keine Kontrolle mehr über sich oder über sein Leben. Freiheit, die Angst machte.

Marc dachte kurz an seine Arbeit in der Gemeinde. An die Kontrollen, denen er sich unterwarf. Unter welcher Beobachtung er manchmal zu stehen glaubte.

Die drei Frauen standen unter dem fauchenden Feuerstrahl in ihrem Korb und sahen ihn erwartungsvoll an. Da ging er wie automatisch die wenigen Schritte zum Korb und ließ sich beim Einsteigen helfen. Ohne nachzudenken, ohne wirklich die Entscheidung zu treffen, es zu tun.

Als Hannah ihm die Hand gab, um ihm zu helfen, spürte er kurz Panik in sich aufsteigen, sein Puls fing an zu rasen. "Eigentlich möchte ich nicht …", versuchte er es ein letztes Mal, dann aber stand er schon im Korb neben den Frauen, hielt sich krampfhaft am Rand des Korbes fest und konnte kaum etwas hören, so laut war der Gasbrenner über ihm.

Jetzt war es Marina, die ihn mit routinierter Hand bediente, und er merkte, wie seine Knie anfingen zu zittern.

Er ließ sich auf einen der kleinen Klappstühle fallen und wartete.

Dann ging alles ganz schnell. Nicht mit einem Rucken, wie er zunächst angenommen hatte, sondern ganz schonend und weich hob sich der Korb von der Wiese, schaukelte kurz, und Marc sah, dass sich die dunkle Silhouette der Landschaft um ihn herum abwärts bewegte.

Er zog sich hoch, wagte es, über den Rand des Korbes in den Himmel zu sehen und ließ es zu, dass Marina, die inzwischen die Stangen des Brenners an ihre Schwester übergeben hatte, um ihn zu beruhigen, seine Hand hielt. Unter ihnen tauchten massenhaft Lichtpunkte auf. ...